Cover
Titel
Von Wartburg zu Opel. Arbeit und Ungleichheit im Automobilwerk Eisenach 1970–1992


Autor(en)
Lindner-Elsner, Jessica
Reihe
Geschichte der Gegenwart
Erschienen
Göttingen 2023: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
483 S.
Preis
€ 44,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Carsta Langner, Historisches Institut, Friedrich-Schiller-Universität Jena

Dreißig Jahre nach der staatlichen Vereinigung ist die postsozialistische Transformation in der deutschen Zeitgeschichtsschreibung zu einem aktuellen Forschungsfeld geronnen. Während die Sozialwissenschaften die 1990er-Jahre ausführlich forschend begleitet und en détail ausgeleuchtet haben, beginnen die Historiker:innen erst in den letzten Jahren, sich der Zeit anzunähern. Methodisch und konzeptionell wird dabei noch immer gerungen, in welchem Zusammenhang die DDR-Geschichte und die anschließende Umbruchsphase stehen.

In jüngster Vergangenheit entstanden sowohl größere Forschungsprojekte, die die ostdeutsche Gesellschaft und ihre Transformation seit den 1970er-Jahren verflechtungsgeschichtlich und vergleichend darstellen1, als auch empirisch gesättigte Fallstudien, die den Fokus auf einen bestimmten lokalen Kontext oder auf ein spezifisches Thema legen. Zu letzteren gehört das Buch von Jessica Lindner-Elsner „Von Wartburg zu Opel. Arbeit und Ungleichheit im Automobilwerk Eisenach“, das 2023 im Wallstein-Verlag erschienen ist und auf ihre Dissertation zurückgeht. Wie bereits der Untertitel verrät, handelt es sich um eine Studie zur Geschichte des Automobilwerkes Eisenach – einem der ältesten Standorte der Fahrzeugproduktion in Deutschland – in der Zeit von 1970 bis 1992 unter den Aspekten Arbeit und Ungleichheit.

Lindner-Elsner hat eine äußerst dichte, solide Betriebsgeschichte vorgelegt, die auf vor allem auf Betriebsakten, Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes, medialen Darstellungen, Eingaben und einigen Interviews beruht. Das Buch gliedert sich in fünf große inhaltliche Kapitel (zuzüglich Einleitung und Schlussbetrachtung), wobei die Autorin ihr Material chronologisch anordnet.

Analytisch bedient sich Lindner-Elsner der sozialen Ungleichheitsforschung und versucht – ausgehend von Überlegungen zu intersektionalen Ansätzen – die Entwicklung sozialer Ungleichheitsverhältnisse für unterschiedliche Gruppen in den Blick zu nehmen. Dazu gehören unter anderem Frauen, Rentner:innen und migrantische Arbeiter:innen. Daneben stellt sie auch die Rolle der Massenorganisationen, der Brigaden und des sozialistischen Wettbewerbs dar. Nahezu identisch arbeitet sie sich an diesen Bereichen zunächst für die Zeit vor 1989 und anschließend für die Zeit danach ab. Dadurch wirkt das Buch einerseits etwas schematisch, andererseits kann die Herausforderung, DDR- und Transformationsgeschichte methodisch und in den Erkenntnissen aufeinander zu beziehen, nur wenig eingelöst werden. So wird beispielsweise in Kapitel 3.2 auf Geschlecht als Kategorie sozialer Ungleichheit im Automobilwerk Eisenach in den 1970er- und 1980er-Jahren, aber erst zweihundert Seiten später auf die Auswirkungen der Transformation in den 1990er-Jahren für Frauen (allen voran Schichtarbeitenden und Alleinerziehenden) eingegangen. Konzeptionell wäre eine jeweilige Integration der Zeiträume sicher interessanter gewesen.

Die Geschichte der Arbeit und der Betriebe im Staatssozialismus ist eine der meist erforschten Bereiche der DDR-Geschichtsschreibung.2 Bereits seit den 1990er-Jahren haben sich auch Historiker:innen dieser Themen angenommen. Da Vergesellschaftung im Staatssozialismus mit dem „Recht auf Arbeit“ stark um Lohnarbeit kreiste und die Betriebe die Integration verschiedener gesellschaftlicher Teilbereiche bildeten (die Essensversorgung fand in den Betrieben ebenso statt wie die Kinderbetreuung), ist dies nicht verwunderlich. Daher war es für Lindner-Elsner herausforderungsvoll, diesem Feld neue Erkenntnisse abseits des konkreten Fallbeispiels abzugewinnen. Die Autorin konnte dabei herausarbeiten, dass vor allem Rentner:innen, die als soziale Gruppe in der DDR infolge niedriger Renten häufig weiterhin arbeiten mussten, als sogenannte „Wendegewinner:innen“ gelten können; während beispielsweise berufstätige Frauen – allen voran Alleinerziehende – sowohl vor als auch nach der staatlichen Vereinigung zu den deprivierten Gruppen gehörten.

Da Lindner-Elsner vor allem bilanzierend darstellt und die Betriebsakten ausführlich zu Wort kommen lässt, verblassen die Stimmen und damit auch Erwartungen und Erfahrungen konkreter Individuen und Akteure im Betrieb. So wäre es interessant gewesen zu lesen, welche Erwartungen und Hoffnungen die Frauen im Betrieb mit dem steten Ausbau an sozialen Rechten und Leistungen seit den 1970er-Jahren bis zum Ende der DDR verbanden. Mütter konnten beispielsweise in den 1980er-Jahren, obwohl dies im kommunikativen und kollektiven Gedächtnis wenig verankert ist, bis zu zwei Jahre von der Erwerbsarbeit freigestellt werden (S. 143). Anschließend wollten Frauen auch häufiger in Teilzeit arbeiten, was mit dem Fehlen an Arbeitskräften jedoch nur bedingt ermöglicht wurde. Trotzdem, so zeigt Lindner-Elsner, „dass durch das Dreischichtsystem etwa 50 Prozent der Mitarbeiterinnen nach der Babypause nicht oder nicht wieder bereit waren, in diesem Arbeitszeitmodell zu arbeiten“ (S. 145). Wie wirkte sich das auf die Erwartungen an und die Erfahrungen im Systemwechsel aus? Bereits vor der staatlichen Vereinigung gehörten Frauen im Umbruchsjahr 1990 zu jenen Gruppen, die schneller entlassen wurden und anschließend im Verlauf der 1990er-Jahre nur schlechter neue Arbeitsstellen fanden. Gleichzeitig brachen, ebenfalls schon 1990, die durch den Betrieb garantierten Betreuungsplätze für die Kinder weg. Ob die bis zum Ende der 1980er-Jahre verbesserten sozialpolitischen Angebote an Frauen, insbesondere jene mit Kindern, zu einem Erwartungsüberschuss führten und wie sich dies zu den Erfahrungen nach dem Systemumbruch verhielt, bleibt eine noch immer offene Frage, die auch das Buch von Lindner-Elsner trotz des wichtigen intersektionalen Ansatzes nicht wirklich beantworten kann.

Vor allem durch ihren Blick auf migrantische Arbeiter:innen bietet Lindner-Elsner mit ihrem Buch jedoch Neues. So ist die Geschichte der migrantischen Arbeit im Staats- und Postsozialismus noch wenig empirisch gesättigt untersucht und dringt als gesellschaftliches Problem erst in den letzten Jahren ins kollektive Gedächtnis. Lindner-Elsner zeigt am Beispiel des Automobilwerkes Eisenach, wie auch in der DDR-Gesellschaft migrantische Arbeitskraft genutzt wurde, um vor allem jene Aufgaben zu erfüllen, die bei Deutschen unbeliebt waren. Sie zeigt zudem, wie die Arbeiter:innen aus Kuba und Mosambik mit rassistischen Ressentiments konfrontiert wurden, die schon im Umbruchjahr 1990 in offene Gewalt umschlugen. So stellt sie beispielsweise dar, wie in Eisenach bereits in der Nacht vom 2. auf den 3. Oktober 1990 die Unterkunft der aus Mosambik stammenden Arbeiter:innen angegriffen wurde. An dieser Stelle verlässt sie den engen Rahmen der Betriebsgeschichte und geht in eine Stadtgeschichte über. Das liest sich nicht nur lebendiger, sondern lässt auch größere Erkenntnisse über die gesellschaftliche Wirkung eines Großbetriebes zu. In den meisten anderen Abschnitten bleibt die Studie stark auf den Betrieb und die Belegschaften fokussiert.

Interessant sind auch die Ausführungen zu den Unmutsäußerungen im Betrieb. Zwar wären dabei ebenfalls die Stimmen der Arbeiter:innen – beispielsweise durch die Zitation genutzter Eingaben – spannend gewesen, aber auch der eher bilanzierenden Rekurs auf die stetige, und zum Teil erfolgreiche, Kritik im Betrieb zeigt die Erwartungen der ostdeutschen Gesellschaft auf Betriebsebene. Beim Lesen löst es vor allem aufgrund aktueller Umsturzpropaganda einige Beklemmungen aus: Lindner-Elsner zeigt, wie selbstbewusst die Arbeiter:innen in der DDR Kritik an dem als autoritär und repressiv geltenden Staat übten, der nur wenige Jahre später gestürzt wurde. Möglicherweise hilft es zu verstehen, an welche Erfahrungen hier radikal Rechte mit ihrer Propaganda der „Vollende die Wende“ anknüpfen können.3

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Jessica Lindner-Elsner eine detailreiche, quellengesättigte Fallstudie vorgelegt hat, die durch Rekurs auf die Sekundärliteratur in gesamtgesellschaftliche Fragen mit globalen Bezügen eingebettet wird. Sie kann plausibel argumentieren, dass die Zeit „nach dem Boom“, wie die wirtschaftlichen Krisenphänomene infolge des Ölpreisschocks ab 1973 zeithistorisch oft bezeichnet werden, auch auf die planwirtschaftlichen Volkswirtschaften traf. Sie zeigt anhand eines konkreten Beispiels, dass diese jedoch andere politische Steuerungsversuche unternahmen und sich diese auf soziale Gruppen sehr unterschiedlich auswirkten.

Anmerkungen:
1 Philipp Ther u.a., In den Stürmen der Transformation. Zwei Werften zwischen Sozialismus und EU. Berlin, Frankfurt am Main 2022.
2 Vgl. exemplarisch Peter Hübner / Christoph Kleßmann / Klaus Tenfelde (Hrsg.), Arbeiter im Staatssozialismus. Ideologischer Anspruch und soziale Wirklichkeit, Köln 2005.
3 Alexander Leistner / Julia Böcker, »Im Osten geht die Sonne auf«. Nostalgie als soziologische Erklärung der Gegenwart von Vergangenheit in Ostdeutschland?, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 18 (2021), S. 133–139, https://zeithistorische-forschungen.de/1-2021/5924 (23.02.2024).